Unendlichkeit

Sommer 2020: Die katholische Kirche wird vom Missbrauchsskandal erschüttert, die Pandemie zerrüttet die Gesellschaft, Geflüchtete suchen neuen Halt. In seiner Erzählung spiegelt Volkmar Mühleis diese Ereignisse über die Zeiten hinweg. Könnte sie ebenso Das Narrenschiff heißen, nach dem spätmittelalterlichen Text von Sebastian Brant? Worauf kann man vertrauen, diese Frage stellt sich in allen drei geschilderten Fällen. Und ein Pastor muss sie beantworten, auf seine ganz eigene Art. Anregen lässt er sich dabei von Freunden – und philosophischer Lektüre. Das wissende Nichtwissen des Nikolaus von Kues, ist es mehr als ein Schlagwort, inmitten der Krisen? Der Krise auch von Aufklärung und Vernunft?

Unendlichkeit – Nach dem Kugelspiel des Nikolaus von Kues

Eine Novelle
Verlag Karl Alber, Freiburg im Breisgau, 2023

96 pages, 24 EUR

Im Gespräch mit Aloisia Moser (Foto: Gerhard Dirmoser)

„Unter dem Titel Kein Lob der Torheit präsentierte Volkmar Mühleis im Rahmen der Reihe Stichproben am 19. Dezember 2023 sein Buch Unendlichkeit. Aloisia Moser, Assistenzprofessorin am Institut für Geschichte der Philosophie der Katholischen Privat-Universität Linz, die die Veranstaltung im Stift Wilhering auch moderierte, berichtet:

Wir haben Volkmar Mühleis nicht in den Keplersalon eingeladen, sondern ins Stift Wilhering, wo Fritz Fröhlich die Deckenfresken zum Narrenschiff gemalt hat. Bei dichtem Nebel und Kälte kommen wir am Dienstagabend vor Weihnachten in Wilhering an, der Raum ist gut vorgeheizt, die violette Farbe der Wände wärmt zusätzlich und wir beginnen unser Gespräch. Volkmar Mühleis ist eigentlich ein Tausendsassa im besten Sinne. Er macht Musik – in verschiedenen Formationen -, er schreibt Gedichte, er ist Künstler und er unterrichtet Philosophie und Ästhetik an der Luca School of Arts, einer Kunsthochschule mit Hauptsitz in Brüssel.

In seinem Buch Unendlichkeit, erschienen in der Reihe Philosophie erzählt im Karl Alber Verlag, versucht Mühleis die Philosophie des Nikolaus von Kues literarisch darzustellen. Das ist gar nicht so einfach, denn gerade bei der Unendlichkeit stößt man auf das interessante Paradox, dass man sie eigentlich gar nicht ausdrücken kann. Und das scheint mir die Stärke des Buches zu sein: Das auszudrücken, was man nicht ausdrücken kann. Und damit ist nicht nur der Begriff der Unendlichkeit gemeint, sondern auch soziale Phänomene wie zum Beispiel eine bestimmte Form von Fremdenfeindlichkeit oder die sexuellen Übergriffe von Priestern in der katholischen Kirche und ihre Folgen.

Die Motivation für das Buch, sagt Mühleis, war, mit literarischen Mitteln das Verhältnis von Philosophie und Mittelalter mit der Gegenwart, der Pandemie, den Verschwörungstheorien, den Problemen der Kirche zusammenzubringen.

Wovon Mühleis spricht, ist die behutsame Weiterführung des Erbes seiner gläubigen Mutter, das er als Philosoph angetreten hat, als jemand, der heute aber auch das Gefühl hat, „aus dem Rennen zu sein“, was die Frage des Glaubens oder der Religion betrifft.

Interessanterweise schöpft Mühleis bei diesem Vorhaben Mut aus einer Übersetzung der aristotelischen Poetik, die er im Niederländischen gefunden hat, und in der klar unterstrichen wird, was die englische nur andeutet und die deutsche nicht ausdrücklich erwähnt: dass die literarische Darstellung der Götter der Wahrheit selbst widersprechen mag, doch legitim ist, wenn damit die Gewohnheiten der Menschen zum Ausdruck kommen. Als Ungläubiger Religiosität darzustellen, gehört selbstverständlich zur Freiheit des Künstlers, was einerseits banal erscheinen mag, andererseits jedoch in Frage gestellt wird, wo nachdrücklich Bekenntnisse eingefordert werden.

Wie darstellen also? Wie ausdrücken? Mühleis hatte die Idee, den Pfarrer als Praktiker und nicht als Theoretiker darzustellen, der sich Nikolaus von Kues annähert. Das geschieht im Buch in drei Erzählsträngen. Einer davon ist ein Besuch im Geburtshaus von Cusanus, wo der Pfarrer mit zwei Jugendlichen das Kugelspiel spielt. Dann gibt es einen Erzählstrang, in dem der Pfarrer Diskussionen mit zwei Kollegen führt, einem indischen und einem orthodoxen Priester, durch die zwei unterschiedliche Zugänge zu Nikolaus von Kues diskutiert werden.

Es werden also zwei philosophische Themen verhandelt. Zum einen ein interkultureller Vergleich nach Johannes Hoff, zu Fragen der Logik, zum andern die werkgeschichtliche Lesart von Kurt Flasch, bei der das Problem der cusanischen Aristoteles-Kritik im Mittelpunkt steht, wie es nämlich eine Verbindung zwischen der Stofflichkeit oder Materialität und dem Erkenntnisakt des Stoffes geben kann. Kues überträgt diese Verbindung auf den heiligen Geist, wogegen sich der orthodoxe Kollege wehrt. Es gehe vielmehr um eine strukturelle Frage der Verbindung und nicht um die Überführung des Verbindenden in eine neue Entität.

Mühleis sagt, er wolle sich literarisch nie so leiten lassen, dass die Erzählung zur Illustration werde. Vielmehr komme es darauf an, dass eine tragfähige Mischung mit einer Eigendynamik entstehe.

Wenn Nikolaus von Kues davon überzeugt ist, dass es eine Vielfalt von Möglichkeiten gibt, wie der Mensch das unendliche Universum messend begreifen kann, dann wird unser Wissen nie seinen Vermutungs- und Konjekturalcharakter ablegen können. Cusanus schreibt in einem seiner Bücher, in denen er den Praktiker, den Löffelschnitzer, dem Gelehrten gegenüberstellt, dass unser „Geist [ist] so sehr zur Angleichung fähig [ist], dass er sich im Sehen dem Sichtbaren, im Hören dem Hörbaren, im Schmecken dem Schmeckbaren und im Riechen dem Riechbaren angleicht“. Cusanus hat hier eine Theorie, in der Arteriengeister, die Transmitter sind, Körperliches und Geistiges überbrücken.

Es geht dabei nicht nur um freischaffende Spontaneität und passive Nachbildung oder Rezeptivität, sondern um die höchste Form der Angleichung, jene an Gott.

Und diese ist grenzenlos, eine in beide Richtungen offene assimilatio. Die Angleichung des Geistes an die Dinge, die Angleichung der Dinge an den Geist. Der Endpunkt der Angleichung ist für alles Erkennen maßgebend, bleibt aber für jeden konkreten Erkenntnisakt schemenhaft. Der Geist vermisst und sucht sein eigenes Maß, das er so jedoch nicht finden kann.

In seinem Buch löst Mühleis diesen Konflikt, indem er die Figuren derart konstelliert, dass sie uns etwas mitteilen, aber nicht im Modus der Kausalität. Am deutlichsten wird dies im dritten Erzählstrang, dem Rückkehrer aus den USA, dem Mann, dessen Trauma über allem schwebt, sich aber nicht ausdrücken kann. Und dann doch (Achtung Spoiler-Alarm!) praktisch zum Ausdruck kommt in der Blitz- und Nacht-und Nebel-Aktion des Pfarrers, der das Kreuz auf dem Kirchengrundstück abmontiert und stattdessen den igluartigen Schutz- und Begegnungsraum des Architekten aus Aleppo aufstellt, der als Ort der Kontemplation und des Innehaltens gilt. Damit ist auch die Vermittlung zwischen den Religionen vollzogen.“

21.12.2023/Aloisia Moser/HE

Quelle: Volkmar Mühleis im Rahmen der Reihe Stichproben: Kein Lob der Torheit. – ku-linz.at (21. Dezember 2023)