Besprechung von Kunst im Sehverlust auf artnet, 2006

Jenseits des Visuellen

von Michael Mayer

Was heißt es, Kunst nicht zu sehen? Was für Musik und Literatur, für Hörspiel und Tonkunst allenthalben problemlos zu sein scheint, mutet im Bereich der so genannten bildenden Kunst nachgerade grotesk an. Aufs Bild verpflichtet, dem sichtbaren Residuum künstlerischer Produktivität, scheint die Allianz zwischen Visualität und Werk hier unkündbar. Doch nicht erst die Konzeptkunst, die „Kopfkunst“ der Moderne, sondern schon die im 17. Jahrhundert einsetzende Debatte über die genuin haptischen Qualitäten bildender Kunst hinterfragte den stillschweigend eingesetzten Primat des Okularen. Mit seinen „Aufzeichnungen eines Blinden“ eskalierte bei Jacques Derrida die Provokation des Nicht-Sehens in der Kunst zur dialektischen Volte. Eine „philosophisch-visuelle Reflexion über Blindheit und Erleuchtung“ nennt dies Volkmar Mühleis, der seinerseits dem Sehverlust in der Kunst eine eigene, kundige, durchdachte und – wie dem Lesenden alsbald dämmert – längst überfällige Studie widmet. Sein Versuch, die Weiterungen und Konsequenzen für den Begriff der Kunst als Ganzes zu thematisieren, will man die Kunst Blinder und Sehbehinderter ernst nehmen, zielt auf die Frage nach einer Ästhetik jenseits bloßer Visualität. Entfaltet wird sie in der Tat am Beispiel von vier zeitgenössischen blinden, respektive stark sehbehinderten Künstlern: Jonathan Huxley, José Grania Moreira, Evgen Bavciar und Flavio Titolo. Dabei hält sich Mühleis nicht nur an Heinrich Wölfflins kunstgeschichtlicher Vorarbeit und seiner Verhältnisbestimmung von Taktilität und Visualität schadlos. Man hat zuweilen auch den Eindruck, als wolle der Autor jenes von Ulrich Sonnemann eingeworfene Schlagwort von der abendländischen „Okulartyrannis“ – die Despotie des Auges über alle anderen Sinne – kunsttheoretisch herunter brechen und am künstlerischen Material beglaubigen.

Volkmar Mühleis: Kunst im Sehverlust. Wilhelm Fink Verlag, München 2005. 295 Seiten. 65 Euro