Das Gemälde Mädchen mit totem Vogel ist ein Rätsel. Von wem es stammt ist nicht bekannt, und es gibt auch keine zweite vergleichbare Darstellung in der Kunstgeschichte, in der ein Mädchen einen toten Spatz in Händen hält. Zugleich ist es ein wunderbares Bild, hervorragend gemalt, und fasziniert es noch heute. Es hängt im Museum für Schöne Künste in Brüssel, und während meiner Führungen dort blieb ich immer gern mit der Gruppe vor dem Bild stehen, um abseits von jedem kunsthistorischen Wissen die Besucher einzuladen, einmal unbefangen sich auf die Erscheinung selbst einzulassen, ein Gemälde zu betrachten, dass ihnen nicht mehr bietet als sich selbst. So stand ich einmal mit einer Gruppe chinesischer Studenten vor dem Bild. Und erst da fiel mir auf, dass keinerlei westliche Symbolik den interkulturellen Dialog über das Gemälde behindert, da es in Gestalt eines Kindes und eines toten Vogels von nichts anderem zu handeln scheint als der Frage nach Leben und Tod. Dieser Frage wollte ich im weiteren nachgehen, schaut das Mädchen dem Betrachter doch derart über die Schulter, als erwarte es eine Antwort. So habe ich also zum einen versucht das kunsthistorische Rätsel zu lösen, zum anderen die interkulturelle Dimension des Bildes zu erkunden und darüberhinaus stellvertretend dem Mädchen eine Antwort zu geben, wie sie meinen Vorstellungen entspricht.
Mädchen mit totem Vogel – Eine interkulturelle Bildbetrachtung
156 Seiten, Wilhelm Fink Verlag, 2014
19,90 Euro