Besprechung von Die Gegenstände unserer Kindheit

 

Journal Phänomenologie, Nr. 50, Wien 2018

 

Volkmar Mühleis / Jörg Sternagel (Hg.): Die Gegenstände unserer Kindheit. Denkerinnen und Denker über ihr liebstes Objekt. Paderborn: Wilhelm Fink 2019. 309 S., ISBN 978-3-7705-6164-3, EUR 59,00

 

Blickt man über die bloße Klassifikation von Textsorten hinaus, so lassen sich aus der Erfahrung des Rezensenten mindestens drei verschiedene Formen des wissenschaftlichen Buches festhalten, durch die Leserinnen und Leser sich mehr oder minder stark affizieren lassen: Da gibt es erstens die Bücher, die nicht selten Erwartbares enthalten und die einfach gelesen werden, weil es die jeweilige Fachwelt erwartet. Die jede wissenschaftliche Disziplin konstituierenden Neuauflagen der »Standardwerke« etwa sind so ein Fall. Zweitens gibt es Bücher, die Unerwartetes präsentieren und die das Potential haben, neue Denkweisen zu eröffnen, mithin sogar neue Paradigmen in der Forschung anzustoßen. Und drittens gibt es Bücher, die Leserinnen und Leser – nicht selten im positiven Sinne – schlichtweg irritieren. Der von Volkmar Mühleis, Dozent für Kunstphilosophie an der LUCA School of Arts in Brüssel und Gent, und Jörg Sternagel, Dozent für Theorie der Zürcher Hochschule der Künste, herausgegebene Sammelband bewegt sich in der Wahrnehmung des Rezensenten zwischen den beiden letztgenannten Varianten.

Nach eigener Aussage der Herausgeber changieren die Beiträge zwischen künstlerischer und geisteswissenschaftlicher Forschung. Darüber hinaus verbinden sie vorwiegend deskriptive Zugänge zu Gegenständen in der Kindheit mit autobiografischer Forschung bzw. analytischen Reflexionen eigener Kindheitserinnerungen. Anstatt der sonst üblichen – und nicht selten wohl eher simulierten als tatsächlichen – Objektivität wissenschaftlicher Forschung macht der Sammelband damit vielmehr die Subjektivität der erlebten bzw. erinnerten Kindheit zum Ausgangspunkt der Beschreibungen und Analysen der im Buch versammelten »Denkerinnen und Denker«. Trotz der Heterogenität ihrer Blickwinkel und Verfahrensweisen lässt sich als Meta-Thema des Bandes die Materialität in der Kindheit festhalten – und dies erscheint nicht zuletzt für die gegenwärtigen kindheitspädagogischen Debatten höchst relevant. Dingen bzw. dinglichen Arrangements und Räumen wurde insbesondere in der jüngeren erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung zunehmend Aufmerksamkeit zuteil.[1] Dennoch lässt sich bislang keineswegs von einer eigenständigen Forschungsrichtung zur Materialität des Pädagogischen bzw. des Pädagogischen der Materialität sprechen.[2] Dies könnte unter anderem daran liegen, dass die Gegenstände unserer Kindheit ebenso vielfältig sein können wie die Art und Weise ihrer Verwendung durch Kinder.[3] Vor diesem Hintergrund ist ein forschender Zugang zur Bedeutung von Gegenständen in der eigenen Kindheit von WissenschaftlerInnen durchaus vielversprechend.

Nach einem Vorwort von Claus Stieve, der auf Basis von Romanen die Verflechtungen von Kindheitserinnerungen und Dingen sowie ihr Eindringen bzw. Sich-Einschreiben in die kindliche Erfahrungswelt beschreibt und der auch die verschiedenen Formen, in denen sie uns affizieren können, skizziert – etwa: »Faszination, Staunen, Begierde oder Angst« (S. 12) –, folgt die Einleitung der beiden Herausgeber. Sie kennzeichnen das Buch als ein »Experiment« (S. 19), das zum Ziel hat, »den vortheoretischen Komplex von Kindheit und erfahrener Gegenständlichkeit, und wie er reflektiert werden kann« (ebd.), zu klären. Den Kern des Sammelbandes bilden zwanzig Beiträge von WissenschaftlerInnen aus der Philosophie, der Erziehungswissenschaft, der Kunsttheorie, der Medientheorie, der Kulturwissenschaft und der Philologie. Ihre interdisziplinären Beiträge im Einzelnen zu referieren, würde eine Rezension bei Weitem sprengen, so dass im Folgenden lediglich ein grober Ein- bzw. Überblick gegeben wird, der aber die verschiedenen versammelten Perspektiven auf Gegenstände in der Kindheit ein Stück weit zu systematisieren versucht.

Erstens finden sich im Sammelband Beiträge, die materielle Objekte in ihrer spielerischen Verwendung durch Kinder thematisieren – so etwa Käte Meyer-Drawes Roller, dessen Beherrschung und Geschwindigkeit ihr nicht nur durch Bilder erinnerlich sind, sondern die regelrecht in ihr »Verhaltensensemble« eingeschrieben sind. Ebenfalls in diese Kategorie fallen Michaela Otts Gummitwist, der meist als Gemeinschaftsspiel den Bewegungsdrang befriedigte und mit dem sich das Können bestimmter Bewegungsabläufe üben und verfeinern ließ, ohne dass ein Wettkampf daraus wurde; der Mini Senso von Nadja Ben Khelifa, die Puppe und das Sparbuch bei Peter Bexte, die unter anderem den Wunsch einer Teilnahme an der Tour de France anregten; der Bausatz-Segelflieger bei Martin Gessmann, der in der Kindheit bestimmte Wunschvorstellungen auslöste, sowie die Spielzeugpistole im Beitrag einer Autorin, die im Sammelband unter dem Pseudonym Janice Elu schreibt.

Zweitens finden sich Beiträge über noch gegenwärtig erhalten gebliebene Gegenstände, die starke biografische Assoziationen hervorrufen, so etwa Silvia Stollers Stoffmaus, die sie von ihrem Religionslehrer geschenkt bekam und die eine starke persönliche Bedeutung für sie und die ihr als Kind zugeschriebenen Rollen hatte. Hinzu kommen das Rändel der Großmutter von Mirjam Schaub, die die Autorin an ihre Alltagserfahrungen als Kind erinnert, und Rainer Totzkes durch eine Muschel ausgelösten Erinnerungen an Großmutters Sparkassen-Schrank, in dem seinerzeit ebenfalls eine Muschel lag. Auch in diese zweite Kategorie einordnen lassen sich Eva Koethens Skulpturen, deren von ihr gestaltete Formen von ihren Kindheitserinnerungen geprägt zu sein scheinen.

Drittens enthält der Sammelband Beiträge, die die Funktionen bestimmter materieller Objekte in der erfahrenen Kindheit widerspiegeln, so etwa Christian Grünys Spieluhr, die unter anderem als Übergangsobjekt beim Einschlafen fungierte, aber auch der Diaprojektor bei Iris Laner, der als Medium Bilder zu Familienerfahrungen an die Wand des heimischen Wohnzimmers projizierte und damit bestimmte Welten bzw. Blicke in die Vergangenheit eröffnete. Ebenfalls in diese Kategorie fallen die schweren und dunklen Gemälde, die Dieter Mersch als »Über-Bilder« in Erinnerung geblieben sind. Zu nennen sind hier aber auch Selin Gerleks Rekonstruktion der Bedeutung von Notizbüchern in ihrer Kindheit, die einen Dialog mit sich selbst als Kind ermöglichen, und Elisabeth Schäfers Erinnerungen an den Stein, das Feuerwehrauto, das Federpennal und den liegenden Hund aus Holz (ein Kästchen mit Zeichenfeder und Tintenfass im Inneren).

Viertens finden sich Beiträge, die eher über immaterielle Gegenstände berichten, so etwa über die Stimme des Sängers Ivan Rebroff, an die sich Ralf Peters in einem Beitrag erinnert. Manuela Klaut schreibt über »das tote Knie« aus Alexander Kluges Roman Die Patriotin, das sie aufgrund der Verfilmung im Gedächtnis behalten hat und das sie anregt, über Medien und Medienwissenschaft nachzudenken. Eine besondere Position nimmt zudem Stephan Günzels Beschreibung des Meeres als Objekt seiner Kindheit ein. Durch die Fluidität, geringe Reibung und eine besondere Form des Widerstands gegenüber dem menschlichen Körper bildet es einen eigenen gegenständlich-räumlichen Bereich von Kindheitserfahrungen, der bislang von der Forschung kaum thematisiert wurde.

Schlussendlich enthält der Band – fünftens – Beiträge, die neben vortheoretischen Beschreibungen auch stärker analytisch angelegte grundlagentheoretische oder gar systematische Argumentationen verfolgen. Hierzu gehören vor allem Elke Bippus’ Untersuchung zur Ethik der Dinge aus praxeologischer Perspektive und Rudolf Wansings Überlegungen zu Kindsein, Dingen und Denken, die Kinderwelten, aber auch das »Welten« (als Verb) durch Kinder beleuchten.

Der deskriptiv-autobiografische Zugang macht das Buch nicht nur zu einer Fundgrube für pädagogisch relevante Einsichten über Phänomene gegenständlicher Wahrnehmung, Aneignung und Vermittlung in der Kindheit, sondern bietet durch die Beschreibungen von Kindheitserinnerungen zugleich ein reichhaltiges empirisches Material, das insbesondere für die Kindheitsforschung[4] von Bedeutung ist. Die hervorragenden Zeichnungen der Schweizer Künstlerin Rebekka Baumann erweitern den Blick auf die in den Beiträgen thematisierten Sachverhalte. Bedeutsam ist die aus dem Band offensichtlich hervorgehende gegenständliche Unterscheidung von materiellen und immateriellen Artefakten, also von tatsächlich »greifbaren« Kulturobjekten einerseits und von Gegenständen, die wir uns gedanklich »vor Augen führen« andererseits. Für die kindheitspädagogische Forschung ist diese Differenz von Gegenständen außerordentlich bedeutsam, sind es doch letztere, die sich tatsächlich in das kindliche Subjekt »einschreiben« bzw. von diesem zu eigen gemacht werden, während erstere – also die materiellen Artefakte – nicht selten erst den Anlass bilden, sich bestimmte immaterielle Artefakte anzueignen. Dies verweist zugleich auf die Zusammenhänge beider Kategorien, etwa wenn – wie Friedrich Fröbel dies durch die Schaffung seiner körperartigen Spielgaben didaktisch intendierte – durch den Umgang mit einem Würfel (materiell) ein gegenständliches Verständnis von Geometrie (immateriell) im lernenden Subjekt hervorgebracht wird. Solche Fragen sind dabei im Übrigen keineswegs bloß Fragen nach den Formen des kindlichen Lernens, sondern gleichermaßen Fragen nach der Art und Weise des Vermittelns – insbesondere im Falle anthropogener Artefakte, wie sie sich in pädagogischen Zusammenhängen etwa im Falle der Lern- und Entwicklungsmaterialen Maria Montessoris oder eben mit Blick auf den »selbstlehrenden Würfel« Friedrich Fröbels zeigen. Doch auch der umgekehrte Weg ist bedeutsam, also etwa die Schaffung materieller Artefakte durch Subjekte, ausgehend von ihren immateriellen gegenständlichen Vorstellungen. Solche Momente lassen sich insbesondere im Konstruktionsspiel von Kindern beobachten.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass das Experiment des Sammelbandes geglückt ist! Durch seinen unkonventionellen Zugang ist er nicht nur anregend für das eigene Denken, sondern in grundlagentheoretischer wie auch methodologischer Hinsicht ein Gewinn für die Forschung. Es bleibt auf eine breite Rezeption der Beiträge – speziell auch in der erziehungswissenschaftlichen Forschung – zu hoffen.

 

Ulf Sauerbrey, Erfurt & Jena
Ulf.Sauerbrey@uni-jena.de

 

[1] Vgl. etwa Claus Stieve: Von den Dingen lernen. Die Gegenstände unserer Kindheit, München: Wilhelm Fink 2008; Arnd-Michael Nohl: Pädagogik der Dinge, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011; Sascha Neumann: »Pädagogisierung und Verdinglichung. Beobachtungen zur Materialität der Frühpädagogik«, in: Karin Priem /Gudrun M. König / Rita Casale (Hrsg.): Die Materialität der Erziehung. Kulturelle und soziale Aspekte pädagogischer Objekte, Weinheim u. a.: Beltz 2012, S. 168–184 (= Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 58); Sascha Neumann: »Die anderen Dinge der Pädagogik. Zum Umgang mit alltäglichen Gegenständen in Kinderkrippen«, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 16 (2013), Supplement 2, S. 107–121; Christina Schachtner (Hrsg.): Kinder und Dinge. Dingwelten zwischen Kinderzimmer und FabLabs, Bielefeld: transcript 2014.

[2] Karin Priem / Gudrun M. König / Rita Casale (Hrsg.): Die Materialität der Erziehung. Kulturelle und soziale Aspekte pädagogischer Objekte, Weinheim u.a.: Beltz 2012.

[3] Vgl. etwa Martinus J. Langeveld: Studien zur Anthropologie des Kindes, 3. Aufl., Tübingen: Niemeyer 1968.

[4] Vgl. Heike Deckert-Peaceman / Cornelie Dietrich / Ursula Stenger: Einführung in die Kindheitsforschung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010; Burkhard Fuhs: »Der Zauber der Dinge in der Kindheit. Materielle Kinderkultur im Kontext von Sach- und Erinnerungsforschung«, in: Christina Schachtner (Hrsg.): Kinder und Dinge. Dingwelten zwischen Kinderzimmer und FabLabs, Bielefeld: transcript 2004, S. 63–88; Klaudia Schultheis / Petra Hiebl (Hrsg.): Pädagogische Kinderforschung. Grundlagen, Methoden, Beispiele, Stuttgart: Kohlhammer 2016.