Der Abstand zur eigenen Hand

 

„Ein Tuch so lang wie Tausendundeine Nacht / Scheherazade geht spazieren“ – in hunderten von Ansätzen spielt Volkmar Mühleis mit unserer Vorstellungskraft. Geschichten deuten sich an, schillernde Miniaturen zeichnen sich ab.

Mit poetischen Wendungen, Bildern und Szenen entwirft Volkmar Mühleis in vier Abschnitten ein Kaleidoskop ständig neuer Anfänge, Assoziationen, Querverbindungen und Gegensätze. Dabei wird das Selbstverständliche aufgebrochen, die Sprache in ihren Spielräumen erkundet und abgewandelt – in Kontextverschiebungen, Verkehrungen vertrauter Metaphern, im Unterlaufen alltäglicher Redeweisen. „Aus einem Gitarrenriff geboren / stand er auf der Straße, / im vollschlanken Besitz seiner Kräfte“, heißt es da, während an anderer Stelle das „erotische Federspiel“ besungen wird oder ein „Gartenzwerg mit Irokesenschnitt“ auftaucht. Beiläufig entsteht so eine Abfolge von disparaten, gleichwertigen Fragmenten, Seitenblicken, Überlegungen, Zu- und Einfällen. Gerahmt und rhythmisch gegliedert werden die Abschnitte von Zeichnungen des belgischen Künstlers Jean-François Pirson, in denen er den Abstand zur eigenen Hand auf körperliche wie imaginäre Art vertieft.

Der Abstand zur eigenen Hand 

2024 erschienen im Passagen Verlag, Wien

96 Seiten kosten 13 Euro

Zeichnung: Jean-François Pirson

 

Vermessene Nähe oder Der Abstand zur eigenen Hand

Veröffentlicht von Dr. Manfred Luckas am 19. Dezember 2024 in Rezensionen

Kafka und Kant, Derrida und Lyotard – und die Weimarer Beiträge. Ohne die internen Rites de passage des Passagen Verlags en détail zu kennen, scheint er doch recht erfolgreich in Übergängen zuhause zu sein. Und so ist in Wien, zwischen Literatur, Essay, Philosophie und den Schlüsseltexten der Postmoderne, auch noch genug Platz für gute Poesie. Gute Poesie, wie sie Volkmar Mühleis wahlweise singt, inszeniert oder schreibt, im vorliegenden Fall in der Tat zu Papier bringt, um hier einmal furchtlos dem Analogen das Wort zu reden. Mühleis, geboren 1972 in Berchtesgaden, lebt in Brüssel und lehrt an der LUCA School of Arts Philosophie und Ästhetik. Er ist aber – als spektrale Begabung – neben sehr vielem anderen auch Mitglied des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland und vitaler Teil des Klangkollektivs Brussels Cleaning Masters. So gelingt es diesem Poeten zwischen den Welten zum Beispiel mühelos, sich die Lyrik einer Else Lasker-Schüler mit leichter Hand anzuverwandeln und sie rezitatorisch zu neuem Leben zu erwecken. Nun also, nach Tagebuch eines WindreisendenBrüsseler Tagebuch und Abschied ist ein langes Wort mit Der Abstand zur eigenen Hand das vierte Buch, das im Passagen Verlag erscheint.

Karl Kraus hat einmal gesagt, ein Aphorismus müsse mit einem Satz über die Wahrheit hinauskommen. Aber reicht dafür nicht vielleicht schon ein Wort – oder zumindest zwei oder drei? Liest man bei Volkmar Mühleis einen Neologismus wie »Halsüberströmt«, stürmen die Bilder und Assoziationen nur so auf einen los, sortiert man gleich mögliche Entsprechungen, versucht, der Kontextverschiebung auf die Schliche zu kommen, die Pole auszuloten, von denen her der Autor vernutzte Sentenzen und todmüde Metaphern aufbricht und neu zusammensetzt.

Der Bricoleur aus Brüssel ist dabei immer darauf bedacht, in der »Einöde der Aufmerksamkeit« mit eigener Stimme zu sprechen, als »Flaneur mit dem Blindenstab« – was für ein wirkmächtiges Imago – das Feld nicht kampflos dem Selbstverständlichen zu überlassen. Er hat dafür sprachliche und gedankliche Mittel zur Hand, die, je nach thematischem Zusammenhang, den Abstand zur Realität neu vermessen. Damit meine ich die Kunst der Auslassung und Reduktion, der Andeutung und überraschenden Wendung, die das Sujet nur kurz anboxt und in der Reaktionszeit dann Raum freigibt für neue Querverbindungen und die Symbiose von Gegensätzen. So offenbart sich dieses poetische Verfahren sehr gelungen in dem ebenso keuschen wie lustvoll praktizierten Vokaltausch von »vormodern vermodern«. Über die Grenzen des Sprachspielerischen hinaus werden hier gegenwärtige Problematiken lakonisch auf den Punkt gebracht. Gut zu wissen, liebe »Platzangsthirsche«, dass die Absicht, das Vergangene zu verklären, mit ernsthaften gesundheitlichen Problemen einhergehen kann.

Sich durch dieses luftige Kaleidoskop zu lesen, »das Leichte und die Leichtigkeit« aufzuspüren, in dem auch die »Perspektive einer Rose« und jede Menge Krähen, Katzen und sonstiges Getier ihren Platz finden, ist ein erkenntnisreiches Vergnügen. Und neben der poetischen Arte Povera, die den Text stark und stringent prägt, beeindruckt mich zum Schluss hin doch besonders auch ein Gedicht, das mit den Worten »Ein bürgerlicher Samstagnachmittag den Rasen mähen, das Auto waschen« beginnt. In zehn Zeilen findet sich hier, geistvoll verdichtet, das Destillat einer ganzen Generation.

Gerahmt und rhythmisch fein gegliedert werden die Abschnitte im Buch von Zeichnungen des belgischen Künstlers Jean-François Pirson, in denen er den Abstand zur eigenen Hand körperlich und imaginär ausdrucksvoll visualisiert.

Resümee: Volkmar Mühleis erweist sich wieder als ein Meister der poetischen Pointierung, die wenig Worte braucht, um formfordernd viel zu sagen.

Volkmar Mühleis: Der Abstand zur eigenen Hand. Mit Zeichnungen von Jean-François Pirson. 96 Seiten, 13 €. Passagen Verlag, Wien 2024.