Gesichtsverlusterkennung

 

Foto: Alina Braucks

Ein mäanderndes Hier und Jetzt durchzieht Orte und Zeiten in Volkmar Mühleis’ neuem Gedichtband »Gesichtsverlusterkennung« – historische Schuld und bleibende Verantwortung werden damit ebenso angesprochen wie technologische Grenzen und poetisch-spielerische Freiheiten. Die Gedichte laden zu einer Reise durch Europa und darüber hinaus ein, zu vertrauten Orten wie Paris oder Brüssel, zu verwunschenen Seitenwegen, ob in Cayeux-sur-Mer oder Alt-Kladow. Das Politische vermischt sich mit dem Künstlerischen, in einer Hommage an Nâzım Hikmet, in Erinnerung an Ernst Stadler. Dazwischen schillern Beobachtungen, Begegnungen – »ein hinkend vor sich hin Denkender« zieht dort seiner Wege, eine Studentin aus Kiew, eine aus Moskau, Obdachlose liegen wie »gestrandete Kegelrobben in der U-Bahn« – Alltagsbilder, ins Einmalige gewendet, zurück ins Verlangen, sich nicht zu verlieren.

Gesichtsverlusterkennung

Gedichte

erschienen 2024 im Athena-Verlag, Oberhausen

116 Seiten kosten 17,90 Euro

Gesichtsverlusterkennung oder Die Poesie der Neusser Landstraße

Veröffentlicht von Dr. Manfred Luckas am 5. März 2025 in Rezensionen

Volkmar Mühleis hier noch einmal vorzustellen hieße Eulen nach Athen tragen, ist der ebenso vielschichtige wie vielgesichtige Lyriker und Literat doch mittlerweile ein gern gesehener Gast in unseren Rezensionsgefilden. Nach den beiden Gedichtbänden Fête de la Musique und Das Recht des Schwächeren sowie der Novelle Wasserzeichen ist mit Gesichtsverlusterkennung nun sein viertes Buch im ATHENA-Verlag erschienen, der 1996 von Rolf Duscha in Oberhausen gegründet wurde. Im Zentrum des bemerkenswerten belletristischen Verlagsprogramms steht seit jeher die Veröffentlichung ambitionierter Lyrik in der Reihe edition exemplum.

Der Gesichtsverlust ist ein ebenso problematischer wie ubiquitärer Seinszustand, ihn als solchen zu erkennen und literarisch auszugestalten, erfordert existentielle Einsicht und harte Arbeit an sich selbst. Diese Tugenden manifestieren sich in der hier vorliegenden Publikation in 14 Kapiteln auf immer wieder überraschende Spielart und Weise, die die herkömmlichen Facetten des Lesens und Denkens munter unterläuft. Als Matrix dieser poetischen Spektralanalyse fungiert dabei nicht selten eine stimmige Mischung aus Referenzen an die Populärkultur und wortsinnigen Anklängen an die frankophonen Lebensumstände des Wahlbrüsselers, der sich aber auch in der Avenue Montaigne, Paris bestens auszukennen scheint:

Schon zu Lebzeiten für die Nachwelt / wohnte Marlene Dietrich unerkannt / für ihren eigenen Schatten / auf der Leinwand / am Fenster / ein Rückzug / in den Hades / mit Dienstboteneingang / für die Überfahrt

Neben dem Handwerk der beziehungsreichen Verdichtung beherrscht Mühleis auch den leichten Ton des impressionistischen Hintupftens, der in seinem atmosphärischen Erfassen des Augenblicks an Rolf Dieter Brinkmann erinnert – wie in dem Gedicht Le Premier Bonheur du jour, das einer Hommage an die wunderbare, im letzten Jahr verstorbene, Françoise Hardy gleichkommt:

Von der Kellnerin keine Spur / in der Küche nur / der Duft vom Vortag/ in verschlossenen Räumen / lief das Radio / das Fenster leicht geöffnet / hatten die Letzten ihr Schiff verlassen / in der Nacht / ich stand dort nach dem Regen / im ersten, warmen Licht

Das ist wahre Kunst, die in der titelgebenden Gesichtsverlusterkennung (und andere Fragen der Technik) auch als Langgedicht funktioniert und mit den Mitteln des Lyrischen in nuce die Geschichte von Daisy als unsentimentales Großstadtmärchen erzählt: »Das Gewissen auf Autopilot / stand sie an der Ampel und las.«

Neben Widmungen für andere Große der schreibenden Zunft wie Ernst Stadler, Jan Kuhlbrodt oder Nâzım Hikmet widmet Mühleis seine leidenschaftliche Beobachtungsgabe gerne Orten respektive Nicht-Orten wie der Neusser Landstraße an der Kölner Peripherie. Da finden sich dann »fossile Parkplatzmarkierungen, / Brandmale im Teer, wie glühendes Eisen auf Haut, / in der Sonne«, oder »Querwege für periphere Denker / zur Erholung, Weltverbesserung«, aber auch »ein Haus wie ein Verbindungsstück / die Augenbrauen wachsen einem gerade / beim Hinschauen« und »ein unscharfer Gerhard Richter-Blick auf Chorweiler, übers vorbeirasende Autoheck.« Stundenlang könnte man sich in diesen poetischen Kartographierungen des urbanen Raums mit Gewinn verlieren …

Resümee: Volkmar Mühleis ist ein sehr besonderer Lyriker, der seine dichterischen Mittel nicht zu kalkuliert einsetzt und so im besten Sinne unberechenbar bleibt.

Volkmar Mühleis: Gesichtsverlusterkennung. Gedichte. 113 Seiten, 17,90 €. ATHENA-Verlag, Oberhausen 2024.

Gemeinsame Konzertlesung im Kölner Buchladen Kalker Hauptstraße, mit Johanna Hansen und Ortrud Kegel, moderiert von Manfred Luckas (Foto: Andrea Knoflach).

“So viel kann Luft. Als Wind zerbläst sie alle Ordnung, ist Ordnung ihr nur ein „Spielzeug“, so heißt es in Volkmar Mühleis‘ Gedicht „Neusser Landstraße“ (Band „Gesichtsverlusterkennung“, edition exemplum), aber seine Kraft lässt irgendwann auch mal nach, und das ist Luft eben: „luft. Als bliebe am Ende nichts anderes“. So umreißt es Johanna Hansen in ihrem Gedichte „weißes rauschen“ aus dem Band „Zugluft der Stille“ (edition offenes feld), und da die Luft eine ist durch die der Schnee weht, ist es, „als rieselten unentwegt flocken in jedes wort“, so dass unsicher ist: Überschütten sie die Worte, oder verleihen sie ihnen kristalline Klarheit, so dass sie an Gewicht gewinnen, sie umso sorgfältiger zu wählen und zu setzen sind? Bei Volkmar Mühleis hingegen ist es klar: Der Wind rückt die Dinge in seine eigene Perspektive, „die sauber geschwungene Brücke wirkt schief / zwischen den windschiefen Bäumen / auch fegt er alles fort.“ Loblied des Windes, angestimmt auf der Neusser Landstraße, Meditation am Strand von Litauen im fallenden und zugleich offenbar wieder tauenden Schnee, denn „jeder gletscher ein belangloser geruch. als wäre es möglich / gewesen. Noch einmal von vorn zu beginnen.“

Zwei Orte, zwei Stimmen, zwei – vielleicht – verschiedene lyrische Temperamente, zusammengekommen an einer weiteren Straße, der Kalker Hauptstraße nämlich, genauer, im Buchladen Kalker Hauptstraße. Zwei Stimmen im Dialog, verhalten die eine, die von Hansen – „wenn du fort warst. hab ich unentwegt Zukunft inhaliert“, wirklichkeitsfroh die andere, realismusgesättigt, detailverliebt, letztlich aber auch in die Zukunft schauend, wenn auch in eine vergangene, denn war es auf der Neusser Landstraße 1954 nicht so?: „Kaiser Haile Selassie und Konrad Adenauer fuhren mit ihr (der Alwegbahn, K.K.) in eine andere Zukunft“.

Die Vergangenheit in Zukunft verwandeln, mag sein, dass das auch die Kunst von Ortrud Kegel ist, die mit ihren Querflöten die Stille des Raumes zerteilte, gegen den Verkehrslärm (eigens gespielt vom digitalen Band) ankämpfte und die auch, so jedenfalls schien es, die Musik J. S. Bachs in sich zusammenstürzen ließ, aus den Trümmern aber etwas Neues errichtete. Nervöser, zerklüffteter, aber lebend, lebendig, graziler Tanz auf dem Schutt, Bewegung, „stop and go unter vibrierenden netzen aus momentaufnahmen“ („lockmittel“, Hansen), und das deutet an, irgendetwas bleibt; wie von Bach, so auch von  Françoise Hardy: „Françoise, dir folgt dein Schatten – V. Mühleis, „Le Premier Bonheur du jour“).

Zwei Stimmen im Dialog, vermittelt, in Berührung miteinander gebracht von Manfred Luckas, dem Lektor, Essayisten und Boxer, der die Handschuhe allerdings ausgezogen hatte und die Hand reichte, der Lyrik (die er auch selber schreibt) und den Gästen.”

Kersten Knipp, 26. Mai 2025, auf Facebook, zur Konzertlesung Spiegelschriften